/ „Der Cyberspace ist ein Fluchtort“

Apr 08

/ nic.at News - 08.04.2024 13:00
„Der Cyberspace ist ein Fluchtort“

Kriege, Krisen und Konflikte: Jeden Tag häufen sich schlechte Meldungen. Organisationsforscher Prof. Dr. Dr. Ayad Al-Ani skizzierte beim Domain pulse in Wien den Fluchtpunkt Cyberspace und beschrieb, wie sich Menschen in Zukunft in Netzstaaten zusammenfinden werden. Es könnte seiner Meinung nach zu einer Absetzbewegung in den virtuellen Raum kommen. Im Interview erläutert der Wissenschaftler, warum diese Gruppen mächtig werden können und was das für die Zukunft der Nationalstaaten bedeutet.

Sie beschreiben eine Flucht ins Digitale. Warum sind Cyberspaces und Communities Rückzugsorte aus der realen Welt?
Al-Ani: Das Leben in der realen Welt wird immer schwieriger und weniger vorhersehbar. Der Cyberspace ist deshalb ein naheliegender und leicht zu erreichender Fluchtort. Wir sind alle schon im Internet: Wir kaufen im Internet Dinge ein, überweisen Geld oder können uns eine Domain kaufen. Der nächste Schritt wäre es dann, uns in Communities zusammentun, die sich gegenseitig helfen und unterstützen. Es ist dann ein Land mit Bürgern, die dieselben Werte teilen und die gleiche Vision haben. Und es spielt keine Rolle, wo auf der Welt sie geboren wurden oder wo sie sich befinden, denn der Ort überschreitet geografische Grenzen.

Gibt es bereits Beispiele für solche Communities?
Al-Ani: Ein Beispiel ist Afropolitan. Es ist ein Netzwerk afrikanischer Programmierer, die eine eigene Community im Netz aufbauen, die über physische Schranken hinweg agieren kann. Sie möchten sich gegenseitig helfen. Ein weiteres Beispiel ist Armenien. Das Land im Kaukasus hat im Konflikt mit Aserbaidschan sehr viel Territorium verloren. Nun versucht der armenische Staat über eine Plattform, die weltweit lebenden Armenier zusammenzubringen. Auch der tunesische Staat versucht, Programmierer, die in Europa arbeiten, in einem Netzwerk zu versammeln. Ihnen wird beispielsweise angeboten, dass sie in Tunesien überwintern können. Die Menschen können dann etwa Dienstleistungen des Landes nutzen, wie beispielsweise eine Krankenversorgung aber auch Fablabs, in denen man Produkte „ausdrucken“ kann. Es gibt Vorteile für die Menschen, die auf diesen Plattformen arbeiten ohne dass sie gleich Staatsbürger der Länder werden müssen, die diese Plattformen aufbauen. Länder wie Tunesien, Armenien oder Dubai versuchen also bereits, Teile dieses Kuchens zu ergattern, indem sie in der Cloud angegliederte „Staaten“ aufbauen und einige der etwa weltweit 35 Millionen Firmen anlocken wollen, welche keine fixe geographische Lokation benötigen.

Welche Vorteile versprechen sich die Länder davon?
Al-Ani: Sie möchten Zugriff auf Talente, die Innovationen voranbringen und sie im globalen Wettbewerb nutzen. Das Land wird dadurch mächtiger. Deshalb wird es sicher einen Wettbewerb geben: Wo gehen die innovativsten Leute hin, wo finde ich die besten Rahmenbedingungen? Die Communities werden so immer einflussreicher. Jeder von uns wird künftig eventuell zwei oder mehr Staatsbürgerschaften besitzen: Eine im physischen Land, die man von Geburt an hat und sich nicht aussuchen konnte. Und eine andere im Netz, die man sich selbst aussuchen kann. Man geht dahin, wo man Leute findet, die so ähnlich ticken wie man selbst.

Braucht es denn in Zukunft noch Nationalstaaten?
Al-Ani: Gängige Prognosen gehen davon aus, dass Nationalstaaten unter Druck geraten. Die Community der Zukunft ist eine autarke Gruppe, die aus Leuten besteht, die einander eine gewisse Sympathie hegen. Das ist ein Zurückkehren des Menschen in die ursprüngliche Institution Kleingruppe. Die Frage ist, ob die Nationalstaaten das zulassen. Ich habe nicht den Eindruck, dass der Nationalstaat irgendwann einfach ohne weiteres die Bühne verlassen wird. Denn die weltweiten Kriege und Auseinandersetzungen werden nicht aufhören. Und damit rechtfertigen Nationalstaaten auch ihre interne Hierarchie. Nach dem Motto: Wir sind in Konflikt mit einer anderen Gruppe, deshalb verlangen wir von dir ein gewisses Gehorsam.

Welchen positiven Einfluss können die Online Communities haben?
Al-Ani: Meine Hypothese ist: Diese Communities können so mächtig sein, dass sie Einfluss auf die reale Welt haben. Und zwar einen positiven Einfluss. Staaten müssen sich den Einfluss der Mitglieder dieser Communities annähern, wenn sie deren Talente nutzen wollen. Sie zeigen, dass wir miteinander kooperieren können. Und dass wir in einer Welt leben können, die nicht von Konflikten geprägt ist, sondern von Kooperation. Möglicherweise entstehen in der Cloud neue Strukturen, neue Demokratiekonzepte, die man dann wieder in die reale Welt zurückspielen kann.

Professor Dr. Dr. Ayad Al-Ani:
Ayad Al-Ani ist seit 2019 assoziiertes Mitglied am Einstein Center Digital Future, Berlin und lehrt an der School of Public Leadership der Universität Stellenbosch, Südafrika. Er studierte Wirtschaftswissenschaften und Politikwissenschaft in Wien und erlangte in beiden Fächern einen Doktorgrad. Im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen Veränderungen in Organisationen in Wirtschaft und Politik sowie die zeitgleichen Transformationen in Gesellschaft, Ökonomie und Bildung. Weitere Informationen zur Person und zu Publikationen finden Sie unter:
https://ayad-al-ani.com/

 

Foto: (c) Anna Rauchenberger