/ „Infrarot ist meine Lieblingsfarbe“

Mar 20

/ nic.at News - 20.03.2024 08:30
„Infrarot ist meine Lieblingsfarbe“

Neil Harbisson ist ein Cyborg. Der farbenblinde Künstler ließ sich 2003 eine Antenne in den Hinterkopf implantieren, die es ihm ermöglicht, Vibrationen zu spüren und damit Farben zu hören. Und das auch im Infrarot- und Ultraviolettbereich.

Seitdem die britische Regierung ihm gestattete, die Antenne auf seinem Passfoto zu tragen, gilt der irisch-katalanische Künstler als offiziell erster anerkannter Cyborg weltweit. Seine WiFi-Antenne erlaubt ihm auch, Signale und Daten von Satelliten zu empfangen. Beim Domain pulse 2024 in Wien sprach er über die Herausforderungen der Farbenblindheit, gefährliche Situationen und die schönsten Farben.

Warum haben Sie sich die Antenne implantieren lassen?
Ich kam mit Achromatopsie zur Welt, also kompletter Farbenblindheit. Ich erkenne nur Graustufen und Schwarz-Weiß. Das birgt große Herausforderungen im Alltag. Die Flaggen von Frankreich, Irland und Italien sehen für mich beispielsweise identisch aus: jeweils drei vertikale Balken in schwarz-weiß-schwarz. Auch Personenbeschreibungen sind oft schwierig. Wenn jemand zu mir sagt: „Hast Du den pink gekleideten Mann mit den roten Haaren und blauen Augen gesehen?“ Dann kann ich aus diesem Satz nur herausziehen: Der Mann hat Augen, Haare und ist nicht nackt. Bei einer Vorlesung an der Uni über Kybernetik kam mir der Gedanke: Könnte man mit Technik meine Sinne erweitern, um Farben wahrzunehmen? So entstand die Idee zur Antenne, die Farben in Töne umwandelt. Ich wollte keinen erweiterten Sinn tragen, ich wollte ihn haben. Ich trage schließlich auch keine Nase. Ich habe eine Nase. Eine Antenne in den Kopf zu implementieren ist ein 360 Grad-Sinnesorgan. Ich sehe die Farbe hinter mir, ohne den Kopf zu drehen.

War die Operation kompliziert?
Die Operation wurde bis dato noch nie durchgeführt, ich musste damals erst einen Arzt finden, der mich operiert. Es lief nicht alles reibungslos und dauerte länger als erwartet.

Sie erregen mit Ihrem Aussehen Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Ein Mann wollte gerade von Ihnen wissen, wie Sie mit Antenne schlafen können. Wie reagiert denn Ihr Umfeld generell auf Ihren erweiterten Sinn?
Zum Großteil sind die Menschen interessiert und haben viele Fragen. Ich schlafe übrigens ausgezeichnet, die Antenne ist biegsam! Die Deutung dessen, was die Antenne sein könnte, änderte sich aber im Laufe der Zeit. Mitte der 2000er-Jahre dachten alle, es sei ein Leselicht. 2009 fragten mich viele, ob es eine GoPro-Kamera sei. 2015 war es für einige ein Selfie-Stick. Und später fingen Menschen an, mir „Pokémon“ entgegenzurufen. Kinder wollen die Antenne ständig anfassen, sie finden es spannend.

Und gibt es auch negative Reaktionen?
Es gab immer wieder negative Reaktionen, aber nur einmal wurde es wirklich ernst. Bei einer Demonstration im Jahr 2011 wurde ich von Polizisten attackiert, die dachten, ich filme sie. Ich sagte, dass ich das nicht tue, aber sie glaubten mir nicht und forderten mich auf, die Kamera vom Kopf zu nehmen. Das konnte ich aber natürlich nicht.

Welche Vorteile hat die Sinneserweiterung?
Mit Technologie zu verschmelzen, bringt einen nicht näher an Maschinen, sondern näher an die Natur. Es fügt neue Ebenen der Wahrnehmung hinzu. Ich fühle mich eng mit der Natur und verschiedenen Tierarten verbunden. Ein Beispiel: Ich verstehe, warum Bienen zu einer bestimmten Blume fliegen, denn ich nehme die ultraviolette Farbe dieser Blume wahr. Wir alle sollten die Freiheit haben, uns selbst zu designen. Es ermöglicht Menschen, ihrem Leben neue Realitäten hinzuzufügen. Die Erweiterung unserer Sinne kann zu mehr Empathie und Verständnis für den Planeten und für andere Arten führen, die auf diesem Planeten leben.

Sie sind auch Mitgründer der Cyber-Foundation, einer internationalen Stiftung, die Menschen helfen will, Cyborgs zu werden. Wie entwickelt sich die Community?
Sie wird künftig hoffentlich wachsen. Die meisten Menschen, die sich mit Kybernetik befassen, machen das aus medizinischen Gründen. In den kommenden Jahren werden wir mehr Menschen sehen, die freiwillig mit Technologie verschmelzen. Das wird ein großer Wandel in unserer Gesellschaft, etwas Neues. Die neuen Sinne bieten so viele Möglichkeiten. Irgendwann wird man mich nicht mehr zuerst fragen: „Was ist das für eine Antenne auf deinem Kopf?“ Man wird mich wie selbstverständlich fragen: „Welchen Sinn nimmst Du wahr?“

Und welche Farbe ist für Sie die schönste?
Meine Lieblingsfarbe ist Infrarot. Es ist eine sehr interessante Farbe, mit einem tiefgründigen Klang. Und, was mir auch daran gefällt: Die Farbe ist für andere Menschen nicht sichtbar. Seitdem verstehe ich aber, warum Katzen scheinbar grundlos Wände anstarren: Sie beobachten Infrarotsignale.

 


Welche erweiterten Sinne gibt es noch?
Neben Neil Harbisson gibt es weltweit mehrere Künstler:innen, die sich verschiedenste Sinne zu eigen machen.

• Seismic Sense:

Moon Ribas, Künstlerin und Mitgründerin der Cyborg Foundation, besitzt den sogenannten Seismic Sense. Dieser ermöglicht es ihr, zu spüren, wenn es auf der Erde ein Erdbeben gibt. Mit ihrem Freund Neil Harbisson kann Ribas auch dank Bluetooth-Sensoren in Zahn-Implantaten per Morsecode kommunizieren. Harbisson nennt es „Bluetooth-Tooth“.

• Echolocation:

Der Cyborg-Künstler Joe Dekni kann mit einem Sonarimplantat, eine Art Radarsystem, Objekte hinter sich wahrnehmen. Das sensorische System umfasst zwei Implantate in seinen Wangenknochen.

• Weather Sense:

Künstler Manel de Aguas entwickelte Ohrimplantate, die es ihm ermöglichen, Veränderungen der Temperatur, der Luftfeuchtigkeit und des Luftdrucks zu spüren.

• Magnetoreception:

 

Hannah Meltzer ist eine Künstlerin, die sich Magnete in die Finger und Ohren implantieren ließ, um das Magnetfeld der Erde zu spüren.

• Sense of time:

 

Neil Harbisson arbeitet zudem an einem Zeitsinn, um Zeit verstehen zu lernen. Es soll eine Art Stirnband werden, an dem ein Wärmepunkt innerhalb von 24 Stunden um den Kopf wandert. Wie bei einer Sonnenuhr. 

 

 Foto (c) Anna Rauchenberger